Das Colosseum - wie alles begann
Rom zur Kaiserzeit: eine Epoche von Glanz und Expansion, aber auch von erbitterten Machtkämpfen. Im Jahre 68 nach Christus begeht der verhasste Kaiser Nero Selbstmord. Sofort bricht der Kampf um seine Nachfolge aus. Innerhalb eines Jahres regieren nacheinander vier Kaiser. Zwei von ihnen werden ermordet, einer bringt sich selbst um - und der letzte setzt sich durch.
Titus Flavius Vespasianus stammt aus relativ einfachen Verhältnissen. Aber er ist ein erfolgreicher Feldherr, gerade soll er den Aufstand in der Provinz Judäa niederschlagen. In Rom tobt der Kampf um die Macht - und Vespasian nutzt die Gunst der Stunde. Er hat die Mehrheit der Legionen hinter sich und wird im Dezember 69 vom Senat als Princeps, als erster Bürger im Staat bestätigt.
Als Imperator Caesar Vespasianus Augustus wird er ein beliebter Kaiser und Vater einer neuen Dynastie. Er weiß genau, was das Volk von ihm erwartet. Denn so mächtig die römischen Kaiser sind - sie sind nicht nur auf ihre Legionen, sondern auch auf das Wohlwollen von Senat und Volk angewiesen. Die republikanische Fassade muss gewahrt bleiben. Als demonstrative Geste plant Vespasian ein gewaltiges Bauwerk im Garten des Palastes, den sich Nero mitten in Rom gebaut hatte.
Barbara Nazzaro, Architektin, Technische Direktorin des Colosseums:
"Das Colosseum entstand an einer Stelle, der entscheidend zur Geburt der flavischen Dynastie beitrug. Diese Dynastie kam nach der julisch-claudischen Dynastie, also nach dem Ende Neros. Vespasian entschied, dieses Gebiet der Stadt zurückzugeben, das sich Nero nach dem Brand im Jahre 64 angeeignet hatte, um einen See für sein großes Domus Aurea anzulegen. Eine Fläche, die sich vom Palatin bis zu der Stelle ausstreckt, den man heute Domus Aurea nennt. Um diesen See trocken zu legen und ein Fundament für das Colosseum zu schaffen, wurde ein enormer Ring geschaffen, der mit einer Betonschüttung aus zwei Schichten aufgefüllt wurde. Das Ganze ist ca. 14 Meter hoch."
Das nötige Geld dafür lieferte Vespasians Sohn Titus. Er vollendete, was der Vater begonnen hatte: er besiegte die Juden, zerstörte ihren Tempel in Jerusalem - und brachte den Tempelschatz nach Rom. Eine unermessliche Beute: alleine der siebenarmige Leuchter soll aus 30 Kilo purem Gold bestanden haben! Das geraubte Tempelgold wurde dringend benötigt, denn Vespasians Vorhaben war gigantisch.
Die riesige Baustelle lag nur 200 Meter vom Forum entfernt. Kein Zufall: In den Tempeln und Basiliken spielte sich das öffentliche Leben Roms ab. Es galt als das wirtschaftliche, religiöse und politische Zentrum der Stadt. Daneben setzt sich Vespasian sein Denkmal des Triumphs: das Amphitheatrum Flavium. Der Begriff Colosseum wurde erst tausend Jahre später erfunden - aber das flavische Amphitheater stellte alles Dagewesene weit in den Schatten. Es war das modernste öffentliche Bauwerk des Imperiums - und es entstand in weniger als acht Jahren.
Architektin Nazzaro:
"Man weiß nicht, wer dieses Projekt entworfen hat, aber es ist klar, dass es einen Master-Plan gab. Einen Plan, der von verschiedenen Personen ausgeführt wurde. Wir stellen uns eine überaus aktive und produktive Baustelle vor. Vier Teams arbeiteten zeitgleich an vier Abschnitten, die durch die vier Zugänge an der Haupt- und Nebenachse unterteilt wurden. Der Grundriss des Colosseums gleicht ja der geometrischen Form einer Ellipse. Es liegt auf der Hand, dass es einen Koordinator gab oder eine entsprechende Figur, die sich diese beeindruckende Architektur ausgedacht hat. Eine Architektur mit Elementen, auf die sich in den folgenden Jahrhunderten immer wieder in der Architektur bezogen wurde. Die klassische Säulenordnung wird später zu einem Motiv der Inspiration für die Architektur der Renaissance."
Das Wort "Amphitheater" bedeutet eigentlich "Rundbau" - zwei zusammengesetzte Theater. Die Ausmaße: gigantisch. Über 52 Meter hoch, 188 Meter lang, 156 Meter breit, mit einer Grundfläche von über 3000 m². Mehr als 200.000 Tonnen Travertin sollen verbaut worden sein, von Sklaven aus nahe gelegenen Steinbrüchen geschlagen.
Außen - monumentale Dekorationen auf drei Ebenen. Die drei klassischen Säulen: Im unteren Bereich die dorische Ordnung. Hier die ionische und auf der oberen Ebene die korinthische Ordnung. Über 160 Bronzestatuen stellte man auf. Von der griechischen Mythologie inspiriert, zierten sie die Gewölbe der zweiten und dritten Ebene. 40 Schilde erinnerten an die militärischen Eroberungen Roms.
Absperrungen vor den Eingängen kanalisierten den Andrang der Massen. Über 50.000 Zuschauer konnte der Bau fassen, verteilt auf vier Stockwerke. Es soll nicht mehr als acht Minuten gedauert haben, bis sie alle ihre vorgesehenen Plätze eingenommen hatten. Dafür erhielten sie eine Art Platzmarke, auf der einer der 80 nummerierten Eingänge und der exakte Treppenaufgang verzeichnet waren.
Senatoren und Vestalinnen, die Priesterinnen Roms, traten durch den Südeingang auf das Podium. Es war ganz aus Marmor, die Treppenzugänge mit raffinierten Tierfiguren dekoriert. Der zweite und dritte Rang der cavea, der größte Teil des Zuschauerraums, war den Bürgern und Rittern vorbehalten. Frauen hatten hier keinen Zutritt. Sie waren zusammen mit den Sklaven ins oberste Stockwerk verbannt. Zur Arena hin war dieser Bereich mit 80 marmornen Säulen geschmückt - die Ränge selbst aber waren aus Holz. Ob Ritter, Bürger, Frau oder Sklave: sie alle wussten genau, wo sich ihr Platz befand - sowohl im Amphitheater als auch in der Gesellschaft. Das Bauwerk war ein perfektes Spiegelbild der römischen Klassenordnung.
Ein Konstruktionstrick verhinderte, dass sich nach der Vorstellung alle Ränge gleich schnell leerten: Das einfache Volk drängelte noch in den extra schmal gehaltenen Gängen der oberen Stockwerke - während die Senatoren das Theater längst verlassen hatten. Auch heute noch bauen Architekten Stadien nach dem gleichen Prinzip. Das flavische Amphitheater gilt weltweit als Mutter aller Stadien.
Und wie heute richteten sich schon damals alle Blicke auf die VIP-Plätze: Über einen reich verzierten Privatzugang betraten der Imperator und seine Familie die Kaiserloge. Für sie diente das riesige Amphitheater vor allem politischen Zwecken.
Das war schon damals nicht neu. Das Colosseum war die größte aller Arenen - aber keineswegs die erste. Im ganzen Reich gab es schon Amphitheater. Wer etwas auf sich hielt und das nötige Geld aufbringen konnte, richtete Spiele für das Volk aus. Der Sponsor, der editor, zeigte damit seinen Wohlstand - und nutzte die Spektakel für seine Interessen, für Politik und Wahlkampf. Die oberen Zehntausend suchten sich gegenseitig zu übertrumpfen, auch wenn sich so mancher für seinen Protz hoch verschulden musste.
Auch die Kaiser hatten die Macht der Spiele früh erkannt. Sie erließen Dekrete zur Sicherheit, richteten ganze Behörden für die Organisation der Spiele ein - und nutzten sie selbst. Das Reich wurde immer größer. Inzwischen waren auch Senatoren aus den Provinzen in der Regierung zugelassen. Selbst die Bewohner der Hauptstadt kannten ihre Eliten nicht mehr persönlich. Die Spiele boten einen willkommenen Anlass, der römischen Mittelschicht die neuen Mächtigen vorzustellen.
Rosella Rea, Direktorin des Colosseums:
"Die Imperatoren benutzten das Amphitheater, um einen breiten Konsens zu erreichen. Bei allen Gesellschaftsschichten, aber vor allem bei der Mittelschicht und dem Volk. Dafür dauerten die Spektakel im Colosseum schon mal 120 Tage lang."
Im gemeinsamen Blutrausch verschmolzen Kaiser, Adel und Volk zu einer einzigen Masse. Eine besondere Funktion fiel dabei dem Sonnensegel, dem velarium, zu. 240 Schiffsmasten waren an der Fassade befestigt, darüber liefen Seile, die ein riesiges Segeltuch trugen. Eine technische Meisterleistung - für deren Konstruktion und Bedienung eigens Matrosen aus dem Militärhafen Misenum abgestellt wurden.
Das Velarium schützte nicht nur das Publikum vor Sonne und Wetter - es wurde zum künstlichen Himmel eines eigenen Kosmos. Von oben herab rieselte zur Erfrischung der Zuschauer vaporisiertes Wasser, versetzt mit Parfüm - aber auch Nüsse, Datteln, Pflaumen, Gebäck und Rosenblätter.
Als Hauptgewinne einer Lotterie verschenkte man ans Volk Tiere, die zuvor in der Arena abgeschlachtet worden waren - oder kostenlose Bordellbesuche. Weit mehr also als nur "Brot und Spiele". Der Kaiser, als Mittelpunkt dieser Inszenierung, wurde zu Gott. Er entschied über Leben und Tod. Diese Macht zeigte er nicht nur der hier versammelten römischen Gesellschaft - er zeigte sie der ganzen Welt.
Mit dem Ort für solche Inszenierungen konnten nach Meinung der Zeitgenossen nicht einmal Weltwunder mithalten:
"Schweige das fremde Memphis vom Wunder der Pyramiden, noch brüste sich assyrische Müh' mit Babylon; weichliche Ionier, rühmt euch nicht des Triviatempels. Jegliche Leistung schwindet vor des Kaisers Amphitheater Ein Werk allein feiert künftig statt aller den Ruhm."
- so schwärmte der römische Dichter Martial. Vespasian selbst aber erlebte die Vollendung seiner Vision nicht mehr. Er starb ein Jahr vor der Eröffnung. Im Sommer des Jahres 80 war es sein Sohn Titus, der das Bauwerk einweihte - mit Festspielen, die 100 Tage dauern sollten. Zur Eröffnung gab es etwas ganz Besonderes: Seeschlachten mitten in der Stadt!